Auf keinen Fall eine Kader-Organisation
Irgendwann Ende der 90er Jahre war ja die Einsicht weit verbreitet, dass unberechenbare, direkte Aktionen gegen Atomtransporte der beste Weg sei, für die Stilllegung aller Atomanlagen und überhaupt zu streiten. So auch in unserer kleinen Stadt. In dieser Zeit entstand auch der, so nenne ich das jetzt einfach mal, „nette, unkomplizierte Haufen“ (NUH => Glossar). Jetzt kann mensch ja wild und entschlossen sein, Atomtransporte zu stoppen, meist fehlt aber irgendwas Entscheidendes: eine gute Idee, andere wild entschlossene Leute, Werkzeug, Autos, Geld und Erfahrung. Und das war das gute am NUH, hier gab es irgendwie alles. Das lag vor allem daran, das der NUH aus ca. 25 sehr unterschiedlichen Leuten bestand. Ein paar von denen hatten eine verwegene Idee gehabt und Freundinnen und Freunde angesprochen, die wiederum Freundinnen und Freunde angesprochen hatten. Für das, was wir vorhatten, war NUH perfekt. Die Aktion war ziemlich kompliziert und dadurch, dass Atomtransporte auf der Schiene fahren, auch nicht ungefährlich. Das führte dann dazu, dass es viele unterschiedliche Aufgaben gab: Leute für ein Ablenkmanöver, Leute, die den Überblick behalten, Leute, die mit der Presse oder den Bullen reden (die ja oft leider auch anwesend sind), Leute, die die Aktion an sich durchführen und welche, die für eben diese da sind, auf sie aufpassen, sie mit Schoki versorgen etc. Das führte aber auch dazu, und dass finde ich im Nachhinein fast genauso wichtig wie die (gelungene) Aktion, dass es die Monate davor und danach total viel zu basteln, zu recherchieren und – ganz wichtig – bereden gab. Ob und wie dieser Diskussionsprozess gelingt, das finde ich das allerwichtigste beim Thema Bezugsgruppe.
NUH traf sich alle zwei Wochen, zum Teil öfter. Wir waren, wie gesagt, 25 Leute, kannten uns zum Teil gut, zum Teil gar nicht. Einige machten schon länger Politik und hatte einige Erfahrungen gemacht, für andere war es mehr oder weniger die erste Aktion. Einerseits muss mensch diesen Unterschied, wie ich finde, anerkennen, er darf allerdings auf keinen Fall zu einer Trennung in Kader und Fußvolk führen. Es liegt wohl an allen, dass das hinhaut. Beim NUH fand ich den Diskussionsprozess ganz gelungen. Für mich war das eher neu und aufregend, trotzdem waren alle dummen Fragen voll OK, es gab nicht dieses Rumgetue, dass du cool sein musst und ganz abgeklärt. Wenn das anders läuft und einzelne die Diskussion dominieren oder ein Teil der Leute sich nicht traut, Kritik zu üben oder nachzufragen, dann ist das absolut fatal. Weil es uns doch darum geht: Rauszukommen aus Verhältnissen, die uns bestimmen, rumkommandieren, uns aussaugen. Die Politik und die Aktionen, die wir machen und gestalten, sollen ja gerade Mut und Hoffnung machen und zeigen, dass es anders geht, dass wir nicht nur Räder, sondern auch Sand im Getriebe sein können.
In diesem Sinne war NUH für mich wichtig: Es war unsere, also auch meine Aktion. Wir haben sie ausführlich ausgewertet, was zum Einen extrem lustig war, zum Anderen einfach dazugehört, weil das alles eben ein zusammenhängender Prozess ist, in dem wir voneinander lernen, unsere „Arbeit“, das, was wir zusammen machen, weiterentwickeln – nach unseren Vorstellungen, nicht mit Blick auf das Strafgesetzbuch oder dumme Kategorien wie Kapital oder Geschlecht oder was weiß ich. Naja, und in diesem Sinn ist dieses Zusammenkommen dann auch revolutionär. Eine Revolution ohne großen Rumms, ganz alltäglich, auf den ersten Blick auch ganz einfach – und wirklich großartig.
Bezugsgruppe oder Aktionsgruppe? Ein Bericht
Spätsommer. Eine mail in meinem Postfach, die vom nahenden Castor spricht. Und eine, die darauf antwortet und zu einem Aktionsplanungstreffen einlädt. Zwei Wochen später das Treffen. Großes Hallo allerseits. Haben uns in dem Kreis nun schon mehrere Monate nicht mehr getroffen. Freude des Wiedersehens. Motivation, diesmal den Castor wirklich zu stoppen, genug vorhanden. Letztes Jahr war es ja schon ganz erfolgreich…, aber dieses Jahr erst! Wir zögern nicht lange, unsere Ideen sprudeln zu lassen. Eine nach der anderen durchkreist unsere aktionslüsterne Runde. Es wird viel gelacht, viel gesponnen. Aber so richtig festhalten können wir uns an keinem der Vorschläge. Immer auch sofort eine Skepsis, sofort ein Vorbehalt. Nichts reißt uns wirklich vom Hocker. Keine Idee findet allgemeine Zustimmung.
Und doch favorisieren wir letztendlich einen Vorschlag und fangen an, uns genauer mit ihm auseinanderzusetzen. Er scheint durchführbar und die erste Delegation wird ins Wendland geschickt, um „die Lage zu checken.“ Sie kommt zurück. Wir machen ein spontanes Treffen. Voller Neugier warten wir auf die Ergebnisse. Sie sind eher ernüchternd. Neuer Zweifel, neue Skepsis unter einem Teil der Gruppe. F. steigt aus, er hat Stress mit seinem Job, wünscht uns gutes Gelingen. Ein Dämpfer. Aber wir wollen was machen. Jetzt sind wir schon so weit, die Zeit drängt, nur wenige Wochen und er rollt. Ihn, den es aufzuhalten gilt. Wir treffen uns noch mal und stellen alles in Frage. Keine Entscheidung. Halbe Woche später noch ein Treffen. Zwei, die es unbedingt machen wollen, setzen sich durch. Bei den anderen Motivationsschwund, aber sie bleiben trotzdem erstmal mit dabei. Zweite Wendlandtour. Ergebnisse ähnlich ernüchternd. Wachsende Skepsis in der Runde. Aber wieder eine Stimme, die ruft: „Aber jetzt sind wir doch schon so weit, jetzt haben wir schon soviel in unsere Idee investiert, jetzt können wir doch nicht einfach von vorne anfangen. Zeit ist auch keine mehr.“ Die anderen lassen sich überreden, überzeugen aber lassen sie sich nicht. Manch eineR fängt an, sich nach anderen Optionen umzuschauen. Sucht nach einer neuen Gruppe. Bezugs- oder Aktionsgruppe? Wir lassen eine Konstruktion anfertigen. Einen Tag vor unserem gemeinsamen Aufbruch ins Wendland ist sie fertig. Sie wird mitgenommen. So gut wie niemand von uns hat sie in ihrer realen Ausfertigung gesehen. Egal, sie kommt mit. Jetzt, wo wir sie doch extra gebaut haben, jetzt, wo wir doch nichts anderes geplant haben! Im Wendland: erneut großes Hallo. Zu uns stoßen all die Freund_innen aus dem Rest der Welt. Von unserer Aktion wissen sie noch nichts, hoffen wohl aber, dass wir was im Gepäck haben. Wir feiern unser jährliches Wiedersehen. Am nächsten Tag dann – Plenum. Was wollen wir machen? Was für Optionen gibt es? Zwanzig Leute, die sich zum Teil nicht einmal kennen, suchen nach der optimalen Castorblockade. Zwei Tage bevor, er rollen soll. Bezugsgruppe? Aktionsgruppe? Das Wendland ist groß, wir sind auf Autos angewiesen. Die Autobesetzungen wechseln ständig, damit auch die Menschen, die für die Hälfte des Tages deine „Bezugsgruppe“ sind. Die andere Hälfte: wieder jemand Neues an deiner Seite. Klar, auch ein guter Freund, freue mich, neben dir zu laufen. Aber wer ist nun in meiner Bezugsgruppe? Wir müssen uns wohl mal festlegen, nur noch eine Nacht schlafen und er rollt. Die Autositzplätze geben die Bezugsgruppengröße vor. Plenum. Wir sortieren uns also. Wer macht welche Aktion? Wer übernimmt welchen Job?
Unsere Aktion steht, die Konstruktion wartet, wir brauchen nur noch Leute, die mitmachen. Wo sind die Leute, mit denen ich all das zusammen geplant habe? Der eine sitzt dort drüben in der Ecke und packt seine Sachen, die andere verabschiedet sich gerade. Sie hat Freund_innen getroffen und will jetzt mit denen etwas machen. Was genau? „Ach, wird sich schon zeigen“ die Antwort. Ich werde sie in der Nacht wieder treffen, irgendwo bei einer Blockade. Bei einer Blockade von vielen, die wir in dieser Nacht besucht haben. Blockade-hopping. Wie Sylvesterfeiern in Berlin. Doch halt: wir waren bei der Bezugsgruppenfindung stehen geblieben! Eine Nacht, bevor der Castor rollt. Meine Bezugsgruppe überrascht mich in ihrer Besetzung. Zwei Leute von fünf kenne ich kaum. Was soll’s. Bin traurig, hätte doch auch so gerne M. in meiner Bezugsgruppe gehabt. Und ihn dort drüben auch. Bin ernüchtert. Aber wir wollen ja die Aktion machen, die Leute, die jetzt in meiner Bezugsgruppe sind, wollen auch die Aktion machen. Da haben wir unser Verbindungselement, dass schweißt doch zusammen, oder? Aber Zweifel gibt es trotzdem noch. So richtig überzeugt sind doch nicht alle. Aber irgendwas müssen wir ja machen. „Na gut, ich komme mit… dir zuliebe.“ Auch Frust, dass all die anderen abgesprungen sind, jetzt was anderes machen. Egal jetzt. Wir werden ja irgendwann ein Nachbereitungstreffen machen, da können wir es dann besprechen, jetzt nicht. Gefrustet bin ich trotzdem. Manch eineR bekommt es auch zu spüren. Ach… hätte doch alles so schön sein können. Dann ist es plötzlich klar. Unsere Aktion können wir nicht machen, der Aktionsort ist verbrannt. Wie begossene Pudel stehen wir da. Wissen nichts mit uns anzufangen. Irgendwie sinnentleert unsere Aktionsnacht. Was verbindet uns jetzt noch? Wir fahren von A nach B und wieder zurück. Überall treffen wir auf Leute, denen es ähnlich erging. Überall haben wir das Gefühl, zu spät zu kommen. Uns fehlt die Motivation, noch richtig was zu „reißen.“ Erschöpfung. Resignation? Dann zu guter Letzt ein stundenlanges Warten im Wald. Warten darauf, dass er vorbei rollt und wir ihm vor die Räder springen können. Als es dann so weit ist, schläft die Hälfte und verpasst das „GO.“ Die andere Hälfte rennt wie wild darauf los. Alle in unterschiedliche Richtungen, alle sind alleine, niemand traut sich auf die Strasse. Die Bezugsgruppe im Rücken fehlt. Die Bezugsgruppe, die mit losstürmt. Zu fünft hätten wir es geschafft, aber alleine? Ich hebe mir diesen Gedanken auf für das Nachtreffen. Jetzt falle ich erstmal ernüchtert und todmüde auf meine Isomatte. Träume von einer Bezugsgruppe, die weiß was sie will. Die weiß was sie will, auch wenn die eigentlich geplante Aktion nicht klappt. Die weiß, dass sie etwas zusammen machen will. Nächstes Jahr?